Hartnäckig hält sich die Story vom Zwischengas beim Motorrad.

Um den Vorgang zu verdeutlichen habe ich mal ein paar Skizzen gemacht.
Definitiv: Beim Motorrad funktioniert, egal was irgendwelche Autoren behaupten, kein Zwischengas!

 

Die Darstellung
1) Der Motor ist als grauer Klotz gezeichnet. Ob Boxer oder sonst etwas ist egal.
2) Die Kupplung wird durch die beiden gelben Scheiben dargestellt
3) Das (mein :-)) Getriebe hat nur zwei Gänge. Ich hab sie mit 5-ter und 4-ter Gang benannt. Einen direkten, mit einer Untersetzung von 1:1 (der 5-te) und den 4-ten mit einer Untersetzung von 1:2. Zusätzlich hat es eine Primäruntersetzung von 1:2. Viele Autogetriebe und die Getriebe der Qe haben das. Bei den meisten Japanern ist die Primäruntersetzung auf der Motorseite realisiert.
Entgegen der Realität werden bei "meinem“ Getriebe die Zahnräder verschoben um den Kraftfluss darzustellen
4) Die Hinterachsuntersetzung ist 1:3 ausgelegt

    
Prämisse:ZwiGa01t
Unser Fahrzeug soll bergab fahren. Die Strasse hat gerade eine solche Neigung, dass es, kuppelt man aus, mit gleich bleibendem Tempo weiterrollt.
Gleich bleibendes Tempo bedeutet, dass sich die Räder mit konstanter Drehzahl drehen. Eventuelle Einflüsse des Differentials beim Auto unterschlage ich (weil für die Betrachtung uninteressant).





Was passiert?ZwiGa02t
Das Fahrzeug rollt im hohen (5-ten) Gang, die Drehzahl der Räder sei "n“.
Nachdem die Hinterachsuntersetzung 1:3 ausgelegt ist, dreht die Kardanwelle mit dreifacher Drehzahl also "3n“.
Die Getriebeausgangswelle dreht immer mit Kardandrehzahl
Die Getriebestufe im 5-ten Gang ist 1:1 untersetzt. Daher dreht auch die Zwischen-(oder Haupt-)welle mit "3n“.
Aufgrund der Primäruntersetzung von 1:2 dreht die Eingangswelle daher mit "6n“.
So die Kupplung nicht verölt ist J liegt also auch eine Motordrehzahl von 6n vor.



ZwiGa03tVerwendet man den 4-ten Gang, ändert sich die Untersetzung von 1:1 nach 1:2.
Die Drehzahl der Ausgangswelle bleibt "3n“, schliesslich soll sich die Geschwindigkeit des Fahrzeugs nicht ändern. Die Hauptwelle wird sich nach dem abgeschlossenen Schaltvorgang mit "6n", Primärwelle und Motor werden dann mit "12n" drehen!



Der Schaltvorgang im Auto in Zeitlupe:
Auskuppeln/Gas weg: Die Motordrehzahl sackt bis zur Leerlaufdrehzahl ab, das Getriebe dreht, angetrieben durch die Hinterachse weiter
ZwiGa04tGetriebe vom 5-ten Gang in Neutralstellung: Primär- und Hauptwelle werden nicht mehr angetrieben. Aufgrund der Reibung stehen sie nach kürzester Zeit. Die Ausgangswelle und der "Rest“ drehen unverändert (es geht ja bergab!)
Getriebe von Neutralstellung nach 4-ter Gang: Hier bahnt sich ein Problem an. Die Ausgangswelle mit ihren Zahnrädern dreht sich mit 3n, Haupt- und Primärwelle stehen (fast). Beim Schalten werden Haupt- und Primärwelle vom einrückenden Zahnrad beschleunigt. Fazit: Es kracht.
OK, der Gang ist drin, alle Zähne sind hoffentlich noch dran



ZwiGa05tEinkuppeln: Die Primärwelle dreht jetzt schon mit "12n", der Motor dümpelt im Leerlauf. Falls nicht Gas gegeben wird ruckt es beim Einkuppeln ziemlich heftig. Wer’s schon vergessen hat möge einem Fahrschüler bei den ersten Stunden zusehen. Fazit: Das Rucken lässt sich durch angepasstes Gas geben vermeiden. Die Hastigen geben gleich zuviel Gas, die Kupplung verabschiedet sich mit der Zeit und alle Mitfahrer haben ein HWS- Schleudertrauma. Die Zauderer geben zu wenig Gas und die Mitfahrer nicken jeweils (ohne jedoch zuzustimmen).

   


Wie aber lässt sich das Getriebekrachen vermeiden?
ZwiGa06t
Ganz einfach: Man verwendet ein vollsynchronisiertes Getriebe, doch soooo leicht wollen wir’s nicht haben.
Wir führen zwischen "Getriebe vom 5-ten Gang in Neutralstellung“ und "Getriebe von Neutral nach 4-ter Gang“ einen zusätzlichen Schritt aus:
Getriebe vom 5-ten Gang in Neutralstellung: Hatten wir schon

Einkuppeln/ Gasstoss: Haupt- und Primärwelle werden (auf/über die künftige Drehzahl) beschleunigt
Auskuppeln/ Getriebe von Neutral nach 4-ter Gang: Nachdem Haupt- und Primärwelle durch den Gasstoss beschleunigt wurden und fast die gleiche Drehzahl haben wie die G-Ausgangswelle, rutscht der Gang geräuschlos rein (mit exakt der gleichen Drehzahl würde es nur zufällig funktionieren weil die Zähne "aufeinander“ stehen könnten).
Der Gang ist drin, die Zähne haben praktisch nix bemerkt.

   

Das Ganze beim Motorrad:ZwiGa10t
Auskuppeln/Gas weg: Wie beim Auto sackt die Motordrehzahl bis zur Leerlaufdrehzahl ab, das Getriebe dreht, angetrieben durch die Hinterachse weiter
Getriebe vom 5-ten Gang nach 4-ter Gang: Es gibt keine (definiert schaltbare) Neutralstellung zwischen den Gängen. Das bestehende Problem ist bereits bekannt. Die Ausgangswelle mit ihren Zahnrädern dreht sich mit "3n", Haupt- und Primärwelle haben (noch) die gleiche Drehzahl, müssten schneller sein um wirklich geräuschlos geschaltet werden zu können. Beim Schalten werden Haupt- und Primärwelle vom einrückenden Zahnrad beschleunigt.


ZwiGa11tDurch die kürzeren Schaltwege ohne den "Umweg“ über die definierte Neutralstellung bei den Autos sackt deren Drehzahl (in der undefinierten Neutralstellung) weit weniger ab. Fazit: Es kracht nicht unbedingt. Es kracht umso weniger, je konsequenter beim Schalten "durchgezogen“ wird, weil dann die Differenz noch am kleinsten ist!
OK, der Gang ist drin, alle Zähne sind hoffentlich noch dran


Einkuppeln: Das kennen wir jetzt schon vom Auto
Wie aber lässt sich das Getriebekrachen hier vermeiden?
Jeder kann sich ausrechnen, dass der beim Auto mögliche zusätzliche Schritt "Zwischengas“ beim Motorrad nicht funktionieren kann.
Demnach bleibt als probates Mittel nur: Beim Schalten zügig voll durchziehen.

ZwiGa11tBei gezogener Kupplung einen Gasstoss auszuführen ist lustig, freut Tankstellen, ärgert wegen des Krachs die Motorradgegner, bewirkt aber nix im Getriebe. Auch hat das nix mit Zwischengas zu tun weil, leicht prüfbar, keine (verwendbare) Neutralstellung im Getriebe existiert und auch gar nicht eingekuppelt wird!
Auch dann nicht, wenn ein sehr bekannter Autor dies in seinem Buch schreibt. Ein Psychologe ist nicht zwangsläufig Techniker.
Bedingten Erfolg bringt das (aber nur vielleicht) bei einer im Ölbad laufenden Kupplung. Diese trennt nicht vollkommen. Durch die Ölviskosität werden die diversen Reibscheiben immer etwas mitgenommen. Der Erfolg müsste aber bei mit zunehmender Öltemperatur dünnflüssiger werdendem Öl geringer werden.
Erfolg bringt es gegen den Schaltruck, doch auch da gibt es weniger spektakuläre Möglichkeiten (Link unten: "unechtes Zwischengas")

ZwiGa13tWird der Berg den wir im Beispiel hinabrollen steiler, verschärft sich das Problem, weil die Getriebeausgangswelle während des Schaltvorgangs schneller, die Drehzahldifferenzen also grösser werden.
Fahren wir bergan oder reicht das Gefälle nicht um die Geschwindigkeit zu halten wird es günstiger, da die Drehzahl der Getriebeausgangswelle dann ja auch sinkt und der Hauptwelle "entgegenkommt“.

 

Keine Regel ohne Ausnahme: Die Dnjepr, eine bekanntlich hochmoderne Konstruktion :-), hat jeweils eine Neutralstellung zwischen den einzelnen Gängen und kann (muss sogar) mit Zwischengas geschaltet  werden.

Links
Getriebe Technik schematisch
Echtes Zwischengas
Unechtes Zwischengas